Das Museum Montanelli hat die einmalige Gelegenheit erhalten, die Leihgabe einer einzigartigen Sammlung von 52 Zeichnungen, Stichen und Lithografien des „Visionärs der Moderne“, dem belgischen Maler und Grafiker James Ensor (1860-1949), einem Vorläufer des Expressionismus und Surrealismus, in Prag zu zeigen. Die Sammlung, die sich seit mehr als 100 Jahren im Eigentum der Stiftung Saarländischer Kulturbesitz im Saarlandmuseum in Saarbrücken befindet, repräsentiert Schlüsselthemen in Ensors Schaffen und ist gleichzeitig ein Beweis für den Einfluss, den dieser Meister während seines Lebens und in den folgenden Jahrzehnten auf die Kunstszene ausübte.
James Ensor ist sicher kein religiöser Mensch gewesen. Dennoch findet in achtunddreißig von den zweiundfünfzig Blättern Ensors in der Sammlung des Saarlandmuseums eine motivische Auseinandersetzung mit christlich-religiösen Themen statt und in fünfunddreißig von diesen Fällen befasst der Künstler sich mit dem Leben Jesu. James Ensor sah das Leben Jesu als ein Gleichnis, als einen Parameter für seine eigene Identität als Künstler und zur Beurteilung der Welt in kultureller, politischer und sozialer Hinsicht. Er gab seinen Jesus-Figuren immer wieder Gesichtszüge, die an seine eigenen erinnern, und in einem Fall bezeichnet ein Schriftzug den Gekreuzigten als „ENSOR“. Wenn ein Künstler dies tut, dann arbeitet er nicht im Dienste der Religion, sondern an seiner eigenen Legende. Immer und immer wieder betont Ensor in seinen Jesus-Motiven das grenzenlose Unverständnis, das dem Erlöser entgegengebracht, die bodenlose Ungerechtigkeit, die ihm seitens der weltlichen Mächte zu Teil wurde. Ensor hebt die Schmerzen hervor, die Jesus für seine Mission auf Erden in Kauf genommen hat.
Auch in seinen Bildern schafft Jesus, unbeirrt von allen Qualen und Gemeinheiten, das Unfassbare, nämlich den Tod zu überwinden. Dazu aber musste er sterben. In den Mythen, die die Kunst betreffen, taucht über die Jahrhunderte hinweg immer wieder der Topos auf, dass das Leben kurz, die Kunst aber ewig sei. Selbstverständlich schlummern auch in dieser Spruchweisheit der Wunsch und die Überzeugung, dass der Künstler durch die Kunst weiterlebe. James Ensor hat diese Hoffnung sogar in Worten formuliert: „Ich möchte weiterleben, noch lange zu den Menschen von morgen sprechen. Ich denke an haltbares Kupfer, unveränderliche Druckfarben, an eine einfache Möglichkeit der Vervielfältigung – ich entscheide mich für die Radierung als Ausdrucksmittel.“ In diesen Worten wird auch deutlich, warum er sich 1886 mit einem Male der Druckgrafik widmet und die Malerei von nun an nicht mehr im Mittelpunkt seines Schaffens steht. Ensor geht davon aus, dass die Radierung ein geeignetes Mittel sei, sein “Weiterleben“ – und das impliziert das Leben nach seinem Tode – zu befördern. Auf der anderen Seite zelebriert er in vielen Motiven und Anspielung seinen eigenen Tod. In einem radierten Selbstbildnis, das er nach einer Fotografie, in die Platte ritzte, überformt er sein eigenes Gesicht. Nach einem ersten Druck des Bildes, das Ensor wie in der Fotografie als selbstbewussten Mann vor dunklem Hintergrund zeigt, überarbeitete er die Druckplatte. Dabei verwandelte sich sein Gesicht in einen Totenkopf. Der Künstler simuliert hier seinen eigenen Tod in einem künstlerischen Produktionsprozess und gesteht damit dem Tod selbst eine kreative Kraft zu. Das Bild, das ihn zu Lebzeiten zeigt, scheint aber immer noch durch den Totenschädel hindurch. In einem anderen radierten Selbstportrait von 1888 präsentiert Ensor sein Ebenbild datiert in das Jahr 1960, das Jahr seines einhundertsten Geburtstags. Hier findet ein Spiel mit der Zeit statt. Entweder wird die Geschichte gefälscht, oder Ensor ist ein Seher. So sieht man ihm an, dass er schon einige Jahre in einer Gruft verbracht hat: Die Knochen des Künstlers tragen kein Fleisch mehr, seine Frisur hat enorm gelitten, die Schuhe sind aber immer noch funktionstüchtig. Einerseits karikiert er in diesem Bild den Wunsch vom Weiterleben, anderseits erfüllt er ihn hier selbst. Denn dieses Bild wird weiterleben in genau dem Medium, das er für diesen Zweck ausgewählt hat, in der Radierung.
Dr. Roland Augustin